Im Namen des Erhabenen  
  Interview mit Dr. Drewermann
 

Muslim-Markt interviewt
Dr. Eugen Drewermann – Christlicher Theologe, Psychoanalytiker, Schriftsteller und Friedensaktivist
10.5.2023

Eugen Drewermann ist 1940 in Berkamen in einer gemischtkonfessionellen Bergmannsfamilie geboren. Nach seinem Abitur (1960) an einem humanistischen Gymnasium studierte er bis 1965 Philosophie in Münster und Katholische Theologie in Paderborn. 1966 wurde er zum Priester geweiht. Anschließend arbeitete er im pastoralen Dienst, und studierte Psychoanalyse in Göttingen. 1978 habilitierte sich Dr. Drewermann mit seiner Dissertationsschrift in katholischer Theologie. Ab 1979 hielt er als Privatdozent Vorlesungen an der theologischen Fakultät Paderborn. An seinem 65. Geburtstag im Jahr 2005 trat er aus der römisch-katholischen Kirche aus, die ihn 1991 aufgrund seiner Meinungen suspendiert hatte. Er hat zahlreiche Bücher verfasst und hält online regelmäßig Vorlesungen.

Drewermann ist unverheiratet und lebt in Paderborn

(Das Foto wurde freundlicherweise von arbeiterfotografie.de zur Verfügung gestellt)

MM: Sehr geehrter Herr Drewermann, Sie sind aus der katholischen Kirche ausgetreten, welcher Kirche oder Gemeinschaft der Gläubigen gehören sie aktuell an?

Dr. Drewermann: Die entscheidende Frage des Glaubens ist nicht, welcher Gemeinschaft man angehört, sondern wie man als Person Gott gegenübersteht, und da findet man viele, die als Schwestern und Brüder einem mit der gleichen Einstellung sehr nahe stehen. Es gibt so etwas wie eine unsichtbare Kirche, der wir als Menschen überall zugehören außerhalb der organisierten Religionsfragen. Die schöne Formel dazu lautet auf Arabisch „Allahu Akbar“ (Gott ist am Größten), Gott ist immer größer und man kann ihn nicht einordnen in bestimmte Verbände, Institutionen, Organisationsformen, womöglich noch unter staatlicher Aufsicht. Alles, was Gott in unserem Herzen bewirkt, ist Freiheit, Mitmenschlichkeit, Brüderlichkeit. Es gibt viele Leute, die mir sehr nahe stehen, ganz unabhängig von ihrer verfassten Religion.

MM: Können Sie ein Beispiel nennen zur Veranschaulichung?

Dr. Drewermann: Ein Mann, den ich sehr verehre, ist Mahatma Gandhi. Er konnte sagen: „Ich bin Muslim, Hindu und Christ; und wer eine andere Religion mit den Augen des Gläubigen betrachtet, wird feststellen, dass Gott zu allen Zeiten einem jeden Volk und einem jeden Menschen sagt, was er zum Leben braucht.“ Dafür wurde er ermordet von einem Hindu Fanatiker, aber er hatte vollkommen recht. Ich glaube auch, dass Muhammad genau das wollte. Er hat im Quran betont, dass er keine neue Religion bringen wollte, er wollte lediglich auf Arabisch im siebenten Jahrhundert das sagen, was Gott Adam bei seiner Schöpfung, Noah in der Sintflut, Abraham bei seiner Berufung, Moses auf dem Berg Sinai und den Propheten gesagt hat: „Ich bin Euer Herr“. Gott ändert sich ja nicht. Er sagt immer das Gleiche. Wir müssen es nur verstehen.

MM: Einer ihrer wichtigsten Thesen lautet, dass der Mensch sein Heil nur dadurch erlangen kann, dass er in der Gnade Gottes im Inneren seiner Seele sich selbst findet und nur dadurch auch zu Gott kommt. Prophet Muhammad sagt: „Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn“. Können sie diese These aus ihrer Sicht etwas erläutern?

Dr. Drewermann: Sie setzt voraus, dass wir Menschen im Grunde uns verloren haben und erlösungsbedürftig sind. Ein Hauptgrund, der in den Zwiespalt mit sich selber führt, ist Angst. Und im Hintergrund das Gefühl, abgelehnt zu sein, schuldig zu sein, bestraft werden zu müssen. Darum entsteht ein ständiger Versuch, nach außen etwas richtig zu machen auf Kosten unserer eigenen persönlichen Entwicklung. Das kann bereits seit Kindertagen so vorgegeben sein durch den Druck der Gesellschaft, durch den Druck in der eigenen Familie, durch den Druck der Bezugsgruppen, in denen wir uns zurechtfinden sollen. Entscheidend ist, dass wir das Gefühl zurückgewinnen und die Überzeugung lernen, akzeptiert zu sein für unser Dasein ohne Vorleistung. Das ist das, was man im Grunde Gnade nennt.

Eigentlich beginnt der Quran mit den ersten Sätzen der ersten Sure „Im Namen Allahs den Gnädigen …“. Da ist eine Macht, die möchte, dass es uns gibt, die uns umgreift, in allem, was wir sind, die weiß, dass wir nur aus Staub geformt sind, aber die uns begabt mit dem Atem der Seele, der Sehnsucht nach Gott und dem Gespür, geliebt zu sein. Das ist die Macht, die dahin führt, dass wir uns selber akzeptieren können, dass wir den Mut gewinnen, selbst zu sein. Es ist so wie jetzt im Frühling. Die Blumen wagen sich womöglich durch die Reste des noch gefrorenen Bodens durch das Licht der Einstrahlung der Sonne in ihre Freiheit hinaus, reifen zu sich selber, gewinnen die Gestalt, die mit ihnen gemeint ist, zeigen sich in der Schönheit und der Größe, die in ihnen angelegt ist. Das heißt, sich selber finden in Vertrauen, in Güte, Wärme, Licht und Hoffnung. Das alles können wir uns nicht selber sagen, das muss uns gesagt werden von außen, und dafür steht die absolute Güte, die wir Gott nennen.

MM: Das Abendmahl ist ein zentrales Thema des Christentums, viele Christen, aber auch viele Muslime wissen nicht, dass dem Abendmahl eine ganze Sure im Heiligen Quran gewidmet ist, nämlich die Sure fünf: Der Tisch. Wundersam erhält Jesus auf Bitten seiner Apostel einen gedeckten Tisch vom Himmel. Die Szene ist die Vervollständigung eines ebenso wundersamen Mahls voller Früchte, das die Heilige Maria zuvor erhalten hat und welches ihren Onkel Zacharias in Erstaunen versetzt hatte. Wie kommt es, dass die Anhänger des Abendmahls heute ausgerechnet die größte Abneigung gegenüber Muslimen verspüren, die ihnen am nächsten im Glauben sind?

Dr. Drewermann: Das ist eine vielschichtige Frage. Zunächst einmal handelt es sich bei dem Tisch, der vom Himmel kommt, um eine eigene Begebenheit in der Apostelgeschichte im Neuen Testament. Es ging um die Frage, wie man die rituelle Abgrenzung voneinander aufgrund bestimmter Speisearten der Juden zu überwinden vermochte. Das war für die frühen Christen ein großes Problem gegenüber den Juden. Die Frage lautete, ob man Menschen, die nicht jüdischen Herkunft sind, einladen konnte an Jesus zu glauben, indem man die Speisegebote aufhebt: Man darf z.B. kein Schweinefleisch essen, aber man darf Rindfleisch essen, und derartige Unterschiede. Der Apostel Petrus sieht, wie ein großes Tuch herabkommt vom Himmel, und darin sind alle möglichen zum Essen angeboten Speisen (Apg. 10,9-16). Die Unterschiede rein kultureller Herkunft darf man nicht mit Gottes Gesetzgebung verwechseln. Auch hier gilt „Allahu Akbar“. Das ist ein Satz, der uns durch dieses ganze Gespräch begleiten wird.

MM: … und das Abendmahl …?

Dr. Drewermann: Im Abendmahl hat Jesu selber in eine ähnliche Richtung gezeigt. Jesus hat die Menschen eingeladen, die draußen standen. Es waren zum Beispiel Samariter, ein Volk, das von den Juden missachtet und geächtet wurde. Er hat sie eingeladen. Auch hat er die Zöllner eingeladen. Das waren Kollaborateure des Besatzungsregimes der Römer in Palästina. Er hat Menschen eingeladen, die nicht entsprechend den bürgerlichen Regeln lebten. Eine Dirne konnte zu ihm kommen und ihn die Füße salben. Eine Ehebrecherin sollte verurteilt und gesteinigt werden. Jesus hat das Recht gegeben, sie zu steinigen, wenn jemand nur glaubt, dass er ohne eigene Schuld sei. Einen solchen gibt es nicht. Das ist eine Vertiefung und Veränderung der menschlichen Einstellung zu sich selber, zu den anderen Menschen, zu der Kulturüberlieferung, zu den gesellschaftlichen Reglements. Das ist eine Einladung an alle, am meisten an diejenigen, die nie daran glauben konnten, dessen würdig zu sein. Jesus wollte das sogenannte Böse nicht mit Gesetzen, mit Ausgrenzung und Strafpraktiken abwehren, unterdrücken, niederkämpfen. Er wollte die inneren Gründe der Verlorenheit, der Hoffnungslosigkeit aufarbeiten durch Zuwendung, Begleitung, Verstehen, Geduld. „Ich lade euch ein, ihr seid nicht länger die Ausgegrenzten. Ihr begreift am allermeisten, wie nötig ihr Güte und Gnade habt, ein Ende der Vorurteile und der Verurteilungen. Und ich lade euch ein an einen Tisch ohne Grenzen.“ Das ist der Ursprung des Abendmahls Jesu. Dann kam allerdings die verfasste Kirche, die Christenheit, die viele Gründe gefunden hat, die Botschaft zu moralisieren. Man durfte nur an den Tisch des Herrn, wenn man dessen würdig war, man musste bestimmte Vorleistungen erfüllen und die lagen dann vor allem in der Lebensführung und in der Korrektheit des orthodoxen Glaubens.

MM: … und die spätere Abneigung gegenüber Muslimen …?

Dr. Drewermann: Genau die genannten Gründe waren später in Bezug zu den Muslimen ein Grund, sie auszusperren. Sie waren keine Christen. Warum das so ist, ist ein Paradoxon. Ich sagte eben, Muhammad wollte von Gott so reden, dass es alle Menschen erreicht. Das hat er getan in einer Weise, welche die Formeln der kirchlichen Lehrregulierung reduziert hat. Man kann sprechen auf vielerlei Weise von Gott, aber all das sind nur Teile der Hundert Namen Gottes. Das alles ist relativ. Kein Name ist wirklich das, was Gott ist. So etwas steht auch schon im dritten Kapitel des zweiten Buches Moses in der Bibel. Im Buch Exodus fragt Moses Gott bei seiner Erscheinung: „Was ist dein Name, wie soll ich von dir reden zu den Leuten?“ Und der Gott Israels, der Einzige, der Eine, antwortet sinngemäß: „Was soll das? Du fragst mich nach meinem Namen? Ich bin da, als der ich da sein werde. Das ist mein Name.“ Es gibt keine Formel, kein Begriff, kein Dogma. Wenn du am Boden liegst, bin ich da als derjenige, der dich aufrichtet. Wenn du hochmütig bist und dein Haupt zum Himmel streckst, bin ich derjenige, der dir beibringt, wie deine eigene Größe in einem bestimmten Maß völlig ausreicht, um geliebt und akzeptiert zu werden. Wenn du dich verirrst, steh ich dir im Wege und verhindere, dass du immer weiter in die Irre gehst. Wenn du lahm geworden bist und gar nicht mehr gehen kannst, nehme ich dich bei der Hand und stärke dich. Ich werde da sein, als der ich da sein werde. Das ist die Erfahrung, die du immer machen kannst. Und das ist der einzige Name Gottes, der in der Bibel steht in der Überlieferung des Moses. Eigentlich sollte man mit dem, was Muhammad bringen wollte, genau das Gleiche verbinden. Und dann ist das Erste, was man lernt als Israelit: „Höre Israel. Der Herr unser Herr ist ein einiger Herr.“ Ich sag das mal in den biblischen Original auf Hebräisch, es klingt ein bisschen wie im Arabischen: „Schma Israel, Adonai Eloheinu, Adonai Echad!“ Gott, unser Herr ist ein einziger Gott. Das ist, was Muhammad bringen wollte. Die Zersplitterung in den Vorstellungen zählen zu den 1001 Namen, die man nicht absolut setzen darf, sondern die nur hilflose Formeln sind, um sich verständlich zu machen. Goethe, der hier bestimmt nicht im Verdacht steht, ein Anti-Christ zu sein, hat einmal sehr schön den Auftrag des Moses mit der Botschaft Jesu verbunden. Ich zitiere das einfach:

Jesus fühlte rein und dachte
Nur den Einen Gott im Stillen;
Wer ihn selbst zum Gotte machte
kränkte seinen heil’gen Willen.

Und so muss das Rechte scheinen
Was auch Mahomet gelungen:
Nur durch den Begriff des Einen
Hat er alle Welt bezwungen.

Dahinter steht der Gedanke, dass die Christen Jesus selber vergöttlicht haben, was dieser eigentlich nicht wollte. Er wollte nicht, dass man ihn anbetet, er wollte, dass man seinen Worten folgt, die wiedergeben, was Gott in unser Herz geschrieben hat. An dieser Stelle liegt eigentlich die Trennung zwischen Christen und Muslimen, aber auch zwischen Christen und Juden. Ein bedeutender jüdischer Theologe und Autor Schalom Ben-Chorin hat einmal gesagt. „Gott anzubeten, einigt Christen und Juden“. Und ich füge hinzu: Christen, Juden und Muslime. Wir heben gemeinsam unsere Augen zum Himmel, reichen einander die Hände und beten gemeinsam das Vaterunser, das können wir alle. „Aber zu Jesus beten trennt Christen von Juden“ und es trennt auch die Christen von den Muslimen. Ich halte das für einen wichtigen Anspruch an die christliche Theologie, dass sie den Ursprung des Vertrauens, den Jesus uns schenken wollte, gemeinsam an seiner Seite zu leben, lehrt. Dann hören wir auf mit Dogmen so von Gott zu reden und auch von der Person Jesu, dass man es auf Hebräisch oder Arabisch gar nicht ausdrücken kann. Die Christologie ist ein kompliziertes Gedankengebilde, das Jesus selbst so nicht verstanden hätte, geschweige denn, dass er es für gut befunden hätte. Da muss das Christentum lernen von dem Propheten aus Mekka und dann sicher von dem Propheten aus dem Sinai und von dem Propheten aus Nazareth. Sie alle haben dieselbe Absicht, den einen Gott allen Menschen gleichermaßen zu schenken und die Grenzen aufzuheben, die sich nur in Formelversen verfestigt haben. Einem Christen bedeutet Jesus alles, weil er die absolute Güte Gottes den Menschen in seiner Person geschenkt hat; er ist wie das Licht der Sonne, von dem alles lebt. Aber das ist ein persönliches Verhältnis, kein ontologisches. Wer sagt: ich glaube Jesus als Gott, der sagt im Grunde: für mich steht die Person und Botschaft Jesu im Zentrum meines Lebens; von ihm und auf ihn lebe ich. „Wer mich sieht, sieht den Vater“, sieht Gott als Vater, sagt Jesus im Johannes-Evangelium (Joh. 14,9). So zu vertrauen ist etwas anderes als eine metaphysische Interpretation als Dogma zu erklären.

MM: Sowohl Christen als auch Muslime glauben an den Geist Gottes, der in jedem Herzen ruht und wirken kann, wenn das Ich, also die eigene Seele, aufgegeben wird. Wie kommt es, dass in Deutschland der christliche Glaube so extrem in die Defensive geraten ist?

Dr. Drewermann: Mit dem Ich und der Seele müsste ich noch ergänzen: Wenn wir nur auf uns als Person schauen, werden wir uns in lauter Angst und Schuldgefühlen verengen, dann leiden wir an uns selber, und dann denken wir nur noch an uns selber. Das sieht dann aus wie Egoismus, ist aber lediglich eine Reaktion auf eine Art seelischer Erkrankung. Davon sollten und müssten wir geheilt werden durch ein sich vertiefendes Vertrauen, das uns Menschen schenken, in deren Hintergrund Gott selber mit uns redet.

Warum im vermeintlich christlichen Abendland nur noch so wenig geglaubt wird, hat Gründe, die nicht ganz einfach zu erläutern sind und die mittelbar auch die Interpretation des Quran und die Lehrtradition des Islam betreffen werden. In Europa haben wir seit dem 16. Jahrhundert drei kulturelle, große Bewegungen erlebt. Das ist in der Renaissance die Wiederentdeckung der griechisch-römischen Antike, in der Reformation, die Wiederentdeckung des Neuen Testamentes, der Botschaft Jesu gegen die Überlieferung des Papsttums der römischen Kirche; und dann die Französische Revolution, die Befreiung von politischer Unterdrückung und Diktatur. Das alles kann man am besten zusammenfassen in der Bewegung der Aufklärung im 18. Jahrhundert, vor allem in Deutschland verbunden mit dem Namen Immanuel Kant. Dabei herausgekommen sind zwei Ergebnisse, die geistesgeschichtlich außerordentlich wichtig geworden sind. Das eine ist: Wir haben in Wiederentdeckung der Griechen, unter Anregung auch der arabischen Kultur, im Abendland die Naturwissenschaften entwickelt. Von den Arabern haben wir gelernt, dass man Experimente machen muss und die Interpretation der Experimente mit mathematischen Formeln zum besten Verständnis der Natur betreiben kann. Vor allem haben wir gelernt, dass wir die Natur als eine Einheit verstehen müssen. Sie folgt ihren eigenen Gesetzen, sie lässt keine Lücken, sie ist rational durch den Kausalsatz geregelt. Das ist das eine: Dieses Dogma der Naturwissenschaftlichen Denkweise, der Methodologie, die im 16. Jahrhundert beginnt. Daraus, um 1620 mit René Descartes, ist im Abendland – ohne dass man es beabsichtigt hätte – etwas eingetreten, das dem überlieferten Glauben, wie man ihn aus der Bibel entnehmen zu können meinte, diametral widerspricht.

Die Probleme sieht man heute in jedem Schulunterricht: Woran glaubst du: an den Urknall oder an die Schöpfung Gottes? Stammt der Mensch vom Affen ab oder hat Gott ihn unmittelbar geschaffen? Das sind nur zwei Fragen von vielen. Ist das Leben spontan aus der Evolution entstanden oder ist das ein besonderer Eingriff Gottes? Was ist davon zu halten, dass die Bibel, aber auch der Quran immer wieder davon spricht, dass Gott eingreift in die menschliche Geschichte? Dass er dies und das punktuell bewirkt hat, um seinen Willen durchzusetzen? An all diesen Stellen sagt die Naturwissenschaft: Es gibt kein Eingreifen von außen. Es gibt in diesem Sinne keine Wunder; die ganze Veranstaltung der Natur ist ein einziges Wunder. Aber es ist nicht denkbar, dass durch immer wieder neue Korrekturen wir besser verstehen könnten, wie die Welt abläuft. Wir müssen sie erklären entsprechend den Gesetzen, die wir in ihr finden und die wir nach unserem Verständnis zur Erklärung brauchen können. Daraus folgt, dass die Theologen, ob im Christentum, Judentum, Islam, die Aufgabe hätten, ihren Glauben so auszulegen, dass er nicht länger im Widerspruch zu den Naturwissenschaften steht. Wann immer das nicht passiert, spaltet sich das Bewusstsein. Man hat auf der einen Seite entweder den Unglauben zur Folge – man hat nur noch die Naturwissenschaften und braucht keine Religion mehr. Oder man verfälscht den Glauben zu einer Art von Aberglauben. Dann muss man alles Mögliche für möglich halten. Immer wieder greift Gott ein; die ganze Welt ist unbegreifbar, weil von Gott her immer Neues gewirkt wird. Man begründet nicht mit der Kausalität, sondern durch den Willen Gottes – Das geschieht heute in unserer Kultur in Deutschland zum Beispiel durch die Esoterik. Da beruft man sich freilich nicht mehr auf Gott, sondern macht die Natur selber zum Fantastischen. Es ist alles möglich. Man beruft sich sogar auf Naturgesetze, die man missversteht, auf die Quantenphysik etwa. Das Ganze ist im Grunde ein reiner Aberglaube. Wir müssen auf zwei verschiedenen Ebenen zu einer Gemeinsamkeit finden von Wissen und Glauben, von Naturwissenschaft und Religion, und das ist dringlich nötig, weil die gesamte Naturwissenschaft nicht eine einzige Frage unseres menschlichen Daseins beantworten kann. Sie erklärt die äußere Natur. Sie gibt aber dem menschlichen Leben keinen Sinn. Sie tröstet nicht gegen den Tod. Sie trocknet nicht die Tränen der Traurigkeit, sie gibt uns keinen Halt inmitten einer Welt, in der es so viele Katastrophen gibt, dass die Berufung auf einen Gott, der dauernd eingreifen und helfen könnte, zu einem Trug führt und zum Atheismus drängt.

Deshalb glaube ich generell sagen zu sollen: Wenn wir von Gott sprechen, können wir das nicht anders als im Rahmen der 1001 Namen, die wir Allah geben. All dies sind Bilder. Wir können von Gott nicht anders reden als in der Sprache des Mythos. Gott greift ein, wie wenn da etwas Gegenständliches wäre. Diese Sprache aber ist innerlich symbolisch, bildhaft zu nehmen. Sie verändert unser Existenzverständnis, unsere Lebensführung. Sie verändert unser Dasein. Aber sie arrangiert nicht irgendetwas draußen, damit es uns dann besser ginge. Sie bewahrt uns nicht vor Schwierigkeiten und Katastrophen, doch sie kann uns innerlich stärken, um durchzuhalten und uns selber als Menschen zu bewahren und zu bewähren. Das ist die Art, wie Gottes Gnade mächtig ist in unserem Herzen. Und diese Leistung, die religiösen Traditionen als Symbole zu interpretieren, steht noch an. Das ist ein riesiges Spannungsfeld, das nicht gelöst worden ist im 19. Jahrhundert, nicht mit Darwin im 20. Jahrhundert, nicht mit der Physik und der Biologie. Mit dem durchgehenden Anspruch der Naturwissenschaften, die Welt erklären zu können, ist ja nicht gegeben, dass wir die Welt wirklich verstehen würden, dass wir uns selber inmitten der Welt verstehen könnten. Dafür brauchen wir die Religion. Nur: Das ist eine ganz andere Ebene der Deutung, des Zugangs zur Wirklichkeit. Immanuel Kant, der Hauptvertreter der Aufklärung im deutschen Sprachraum, hat beides zu Recht unterschieden: Die Naturwissenschaften brauchen die Kategorien des Verstandes. Die Religion basiert auf den Ideen der Vernunft. Beides ist methodisch streng zu unterscheiden, ist aber nötig in Wechselwirkung, damit wir richtig leben können.

Ein anderes kommt noch hinzu, das wir im 19. Jahrhundert gelernt haben – eigentlich noch bevor die Evolutionstheorie Darwins Einzug gehalten hat in die Lehrbücher: Das ist: historisch zu denken. Das ist eine Entdeckung, die wir auch der Renaissance mit verdanken, im 16. Jahrhundert schon. Es ist nicht egal, in welcher Zeit, in welcher Kultur, unter welchen Denkbedingungen, von welchen Autoren, in welcher Sprache etwas gedacht und geschrieben wird; ob das Griechen sind 400 vor Christus oder Römer 300 nach Christus, ob es Sachsen sind unter Karl dem Großen im 8. und 9. Jahrhundert. Wir müssen berücksichtigen, in welcher Zeit historisch etwas geäußert wird, und deshalb alles, auch die Bibel, auch den Quran, auch das Neue Testament historisch zu verstehen lernen. Angesprochen wurde das im 19. Jahrhundert auch in der Pädagogik. Pestalozzi entdeckt, dass Kinder nicht einfach kleine Erwachsene sind, sondern dass sie langsam reifen. Jeder könnte das wissen. Aber natürlich müssen wir uns in ein Kind hineindenken und mitfühlen, um zu begreifen, wie es denkt, um dem Kind gerecht zu werden. Wie reden wir mit einem Kind, so dass es verstehen kann? Wir erzählen ihnen Märchen, die haben eine Wahrheit, es sind kindesgemäße Erzählungen. Später können wir das Kind begleiten, erwachsen zu werden in all dem, was es gelernt hat, und erläutern, was gemeint ist. Und wir können deshalb historisches Denken und die Suche nach Wahrheit miteinander verschmelzen.

Auch das war eine große Auseinandersetzung, die dahin geführt hat, dass viele im sogenannten christlichen Abendland gar nicht mehr glauben. Man hat gesehen, dass in der Bibel keine historisch korrekten Berichte abgeliefert werden, keine Informationen, sondern Erzählungen, die unser Leben verändern wollen. Wenn da erzählt wird, wie Jesus Kranke heilt, ist das eigentlich ein Bericht, der uns zeigt, wie wir mit Menschen, die an sich leiden, umgehen sollten, wie wir sie bei der Hand nehmen, ihnen die Hand auf die Stirn legen, ihre Augen berühren, sie aufrichten in Ihren Verkrümmtheiten und Gelähmtheiten. Wie gehen wir so miteinander um, dass Gottes Macht in seiner Güte über die Ängste, die Gehemmtheiten, die Selbst-Unterdrückungsform uns hinausreifen lässt. Das sind die wirklichen Wunder, von denen da erzählt wird, und dann müssten wir sie auch so interpretieren. Stattdessen ist daraus geworden, dass die Bibel unwahr ist, weil sie nicht historisch korrekt berichtet. Man hat verleugnet, dass sie in Bildern erzählt. Man wollte sie festschreiben auf Tatsachen in Raum und Zeit, die man historisch fixieren könnte, und hat dann das Ergebnis dogmatisiert. So musste man dann glauben oder man wäre ein Ungläubiger.

Ich glaube, man muss diese Gegensätze überwinden, man muss lernen von Gott zu sprechen mit den 1001 Namen Allahs. Man muss von Gott sprechen dürfen so poetisch wie in der Sprache der Musik, in der Sprache der Malerei, vor allem in der Sprache der Dichtung. Dann ist man frei, dann redet man so, dass es Menschen nicht einengt unter kirchlicher oder lehramtlicher Kontrolle, sondern dass man die Seele zum Himmel erhebt und berühren lässt in den Anschauungsformen, die uns helfen Gott zu sehen. Was wir sehen, ist nicht Gott, aber Bilder als die einzige Weise, in der wir ihn sehen können. Und die Symbolsprache des Mythos ist international, sie lebt in jedem Menschen.

Der Unterschied ist absolut: In den Dogmen trennen wir entlang den Glaubenslinien der zuständigen Religionsformen Menschen von Menschen und machen aus Gott selber den Lieferanten von Stacheldraht. Wir trennen sogar innerhalb derselben Religion immer wieder voneinander; dann ist es unendlich wichtig, ob jemand sunnitisch, schiitisch oder sonstwie religiös ist. Das alles gehört aber in gewisser Weise zusammen und ist eine Einheit unter den Augen Gottes. Reden wir von Gott in Bildern, regen wir in allen die gleichen Schwingungen an. Die Bilder versteht jeder, die Musik begreift jeder, die Dichtung fühlt jeder im eigenen Herzen. Das versöhnt die Menschen miteinander. Und so sehen wir im Neuen Testament, dass Jesus auch selber in Bildern von Gott redet in Gleichnissen. Dichterisch spricht er von Gott. Das sollten wir wieder lernen. So gewinnen wir die Einheit, die auch im Abendland aus dem Atheismus zurückführen kann entlang den wichtigen Fragen, die sich dem menschlichen Leben stellen. Ob in der Bibel oder im Neuen Testament, ob im Quran – das Problem stellt sich in allen Religionsformen.

MM: Auch Muslime glauben, dass das Wunderwirken Gottes nicht willkürlich ist, sondern bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgt, die Gott sich selbst auferlegt hat. So besteht ein wichtiger Bestandteil der Geburt Jesu in der Wundergeburt durch die Heilige Maria, die zuvor keinen Mann berührt hat. Es ist wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass es inzwischen mehr Muslime in Deutschland gibt als Christen, die an jene Wundergeburt glauben. Auch Sie vertreten die Ansicht, dass dieses Wunder nicht wörtlich zu verstehen sei, was ja Teil ihres Bruches mit der katholischen Kirche gewesen sein soll. Kann Gott Ihrer Ansicht nach nicht auch durch Wunder wirken?

Dr. Drewermann: Wenn wir Wunder wollen, denken wir wie Papst Benedikt. Das steht im 3. Band seines Jesus-Buches, in dem er schreibt, dass Gott machen kann, was er will, weil er allmächtig ist, also auch die Natur an jeder Stelle beeinflussen und ändern kann in ihrem Verlauf. Dann muss man in diesem Sinne an Wunder glauben. Ich glaube aber, man missversteht Gott in dieser Weise. Epikur hat schon 300 v.Chr. das Problem auf eine ganz einfache Formel gebracht. Ist Gott gütig und allmächtig? Dann müsste er die Übel in der Welt ändern. Warum aber bestehen sie dann? Oder aber Gottes ist zwar gütig, aber nicht allmächtig, er möchte die Übel ändern, aber er kann es nicht. Dann fehlt ihm etwas von dem, was dazu gehört, dass er Gott sei. Oder aber Gott ist gar nicht gütig, wohl aber mächtig. Dann wäre er bösartig. Auch das kann nicht mit Gott vereinbart werden. Oder er ist weder gültig noch mächtig. Dann ist er gar kein Gott – Aus der Vorstellung, Gott kann machen, was er will in der Welt, würde die Pflicht folgen, als erstes die Katastrophen, die furchtbaren Ereignisse in der Welt zu verhindern, zu vermeiden und aufzuheben. Es passiert aber nicht. Stattdessen geschieht etwas, das niemandem hilft, und das man nun zum Dogma erhebt, weil man die symbolische Erzählungsweise bei Matthäus und Lukas, gattungsgeschichtlich eine Legende, fälschlich als einen Tatsachenbericht liest.

MM: Aber ist das nicht eine zu naive Theologie? Denn unabhängig davon, ob Gott „direkt“ eingreift, oder die Katastrophe die Folge der Schöpfung ist, so oder so ist es die Folge der Schöpfung Gottes.

Dr. Drewermann: Tatsächlich kann man beispielsweise ein Erdbeben wie jetzt im Südosten der Türkei am simpelsten erklären durch die Plattentektonik. Und Gott greift nicht ein. Warum sollte er etwas Fantastisches wie eine Jungfrauengeburt tun, das lediglich, weil es bei Matthäus und Lukas bildhaft erzählt wird, als historisches Faktum geglaubt werden muss? Allerdings wird das Bild auch im Quran aufgegriffen. Aber es ist ein Bild. Schon im alten Ägypten ist der Pharao in dem Sinne jungfräulich, als er am Tage seiner Thron-Besteigung erkannt wird als jemand, der nicht von einem irdischen Vater gezeugt ist, sondern unmittelbar vom Gott des Windes und des Lichts. Weil das so ist, hat man im Abstand von etwa 2000 Jahren vor Christus diese Tradition, wie man einen König verehrt, den jüdischen Messias mit dieser Symbolsprache verbunden. Man braucht da keine Wunder-Erklärungen, wie Gott eingreift in die normale Biologie bei der Erzeugung von Menschen. Es ist eine Existenz-Beschreibung dessen, was Jesus uns zu sagen hat. So möchte ich das jetzt am einfachsten wiedergeben: Wenn ich sage, Sie sind das Kind von Vater und Mutter, kommen sofort die Biologen und sagen, das können wir genetisch erklären. Dann kommen die Neurologen und sagen, wir interessieren uns für die embryologische Entwicklung vor der Geburt. Welche Einflüsse waren da? Dann kommen die Psychologen, die Psychoanalytiker und sagen: Wir interessieren uns jetzt für die Einflüsse, unter denen Vater und Mutter Sie erzogen haben. Die Soziologen kommen und sagen, wir werden erklären, dass Ihre Eltern Kultur-Agenten der Gesellschaft waren. Das ist es, was Sie heute an der Universität über sich selber in den verschiedenen Fächern lernen können: Biologie, Neurologie, Psychologie, Psychoanalyse, Soziologie und noch hinzugefügt Ökonomie: Die Gesellschaft formt sich entlang den kapitalistischen Gesetzen. Das alles zusammen definiert Sie als Kind Ihrer Eltern, im Grunde als Sklaven äußerer Kausalität. Wir haben es zu tun mit lauter Naturwissenschaften. So werden Sie nie dahin herauszufinden, wer sie gegenüber Gott sind. Das aber wäre jetzt der Satz einer wirklich im Bilde gesprochen jungfräulichen Geburt. Es beschreibt, was Sie vor Gott sind. Um zu begreifen, was mit Ihnen gemeint ist, was Gott mit Ihnen gesehen und vorgesehen hat, müssen Sie sich ihm gegenüber definieren, als sein Geschöpf interpretieren. Dann ist jedes Menschenleben ein reines Wunder, das hervorgegangen ist einzig aus den Händen Gottes, bestimmt zu einer Freiheit, die sich der Außenlenkung in den Gesetzen der Naturwissenschaft entzieht; eine Unmittelbarkeit in ihrer persönlichen Begründung. Das hat Jesus uns vermitteln wollen. Das war die Art, in der er sich als Kind Gottes interpretiert, als Sohn Gottes. Aber das ist nicht Physik, das ist ein Relationsverhältnis, das uns im Rahmen des Vertrauens unseres eigenen Lebens zur Nachahmung und zum Selbstverständnis übergeben worden ist.

Der Unterschied ist deutlich. In einem Fall haben wir ein Wunder, das sich vor 2000 Jahren spektakulär, einmal und völlig überflüssig ereignet hat. Im anderen Fall haben wir eine bildhafte Beschreibung, wie wir leben sollten in einer Form, die alles verändert, die uns endgültig befreit, die unser kleines Ich Gott gegenüberstellt und die ganze Welt für uns verändert. Ich glaube, diese letzte Interpretation ist die religiös richtige und an die hätte auch Jesus selber geglaubt. Er hätte es abgelehnt zu sagen: Du bist auf wunderbare Weise in einer Form entstanden, die etwas macht, das in jedem Sinne physikalisch oder biologisch einzigartig ist. So hat Jesus nie geredet. Er konnte aber sagen – das steht im 2. Kapitel des Lukas-Evangeliums – als Maria ihn suchen kam in Jerusalem im Tempel: Wusstet ihr denn nicht, dass ich da sein muss, wo das Haus meines Vaters ist? Da definiert Jesus sich als Kind seines Vaters unmittelbar und hört auf, das Kind seiner Eltern zu sein. Das ist in etwa, was gemeint ist mit dem Bild der jungfräulichen Geburt. Wir sind Königskinder, Gotteskinder, souverän und einzig Gott verpflichtet.

MM: Wir haben unsere Probleme mit der Behauptung Ihrer Interpretation. Und im Islam ist die Wundergeburt weder überflüssig noch einzigartig, sondern geradezu eine Notwendigkeit im historischen Kontext.

Dr. Drewermann: Das kann ich nachvollziehen, denn schließlich betrachten Sie die Dinge aus einer anderen Perspektive. Aber auch Quran-Interpreten werden lernen müssen, die religiösen Urkunden historisch in ihrer kulturellen Herkunft und vor allem entsprechend ihrer Erzählform zu verstehen: Man kann die Wahrheit von Mythen, Legenden, Märchen und Sagen nicht finden, wenn man sie als Nachrichten von Ereignissen im Raum und Zeit interpretiert. Diese Erzählungen sind nicht historisch, sondern wollen unser Verständnis von Historie ändern.

MM: Für Muslime ist der Heiligen Quran weder eine Sammlung von Mythen, Legenden, Märchen und Sagen, noch eine historische Erzählung, sondern das unverfälschte Wort Gottes, welches in das Herz des besten Aller Menschen herabgesandt worden ist. Und Quran-Interpreten berücksichtigen seit 1400 Jahren historische, kulturelle und andere Kontexte. Aber sie haben ein anderes Verständnis von Wundern – die im Übrigen auch Gesetzmäßigkeiten unterliegen – als Ihr Verständnis. Da es in diesem Interview aber nicht um den Islam, sondern um Ihr Verständnis gehen soll, hier die vielleicht bedeutsamste religiöse Frage aus islamischer Sicht an einen Christen: Ist für Sie der irdische Jesus Geschöpf? Oder anders gefragt: Im schiitischen Islam heißt es, dass es keinen Unterschied zwischen Gott und Muhammad gibt, außer dass der eine Schöpfer ist und der andere Geschöpf, aber jeder Atemzug Muhammads erfolgte im Namen Gottes. Wäre solch eine Vorstellung über Jesus im Christentum akzeptabel?

Dr. Drewermann: Für mich absolut. Es gibt keinen Unterschied. Ich glaube, was Sie über Muhammad beschreiben, ließe sich eins zu eins auch auf Jesus übertragen. Und ich denke, dass die beiden sich als Propheten gut verstehen. Wenn wir im Christentum Jesus metaphysisch als Gottes Sohn erklären, erhalten wir eine sehr komplizierte Dogmatik. Wir müssen jetzt sagen, entsprechend der christlichen Lehre nach dem Glaubensbekenntnis von Nizäa und Chalcedon: Dass Jesus die zweite Person einer dreifaltigen Gottheit ist, die in zwei Naturen, einer göttlichen und menschlichen, kraft ihrer göttlichen Person, diese beiden Naturen vereint hat. So können Sie, wenn Sie das nachsprechen, in der Theologie mit „sehr gut“ bei der Prüfung durchkommen. Aber ich behaupte, Sie sprechen lediglich nach, was Sie selber nicht verstehen. Da sind Unterschiede zwischen Person und Natur, von Person und Relation, die zu endlosen Streitigkeiten geführt haben. An jeder dieser Schritte der Dogmatik-Entwicklung wurden ganze Völkergruppen ausgegrenzt. Die Wahrheit ist: Wir alle sind Kinder Gottes. Mitten in den Basaren konnte Jesus mit den Menschen, die Bettler waren, reden, so dass sie ihre Würde wiederbekamen in den Händen Gottes. Das heißt doch, Geschöpf Gottes zu sein, eine unverbrauchbare Würde zu haben. Aber das ist jetzt keine Frage mehr der Metaphysik und der Sprachregelung mit Begriffen und Worten, in denen kein Vater, keine Mutter ihren Kindern sagen könnten, was sie tröstet, wenn ihre eigenen Angehörigen gestorben sind, in denen kein Lehrer in der Schule sagen kann, was die Schüler lernen sollen, wenn sie ins Leben treten. Wir müssen wieder die einfache Sprache lernen, die Jesus geredet hat im Neuen Testament, eine dichterische Sprache, und uns selber dementsprechend interpretieren.

Dann heben sich diese Unterschiede zwischen den monotheistischen Religionen auf. Mit Jesus beten, sagte ich eben, vereinigt die verschiedenen biblischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Und so könnten wir jetzt auch sagen. Mit Jesus, mit Gott versöhnt zu sein, vereinigt alle Anhänger der biblischen Religion. Christen müssen in diesem Sinn lernen, sich neu einzulassen mit den Muslimen. Dass sie das nicht tun, ist eine der folgenschweren Differenzen, die wir heute noch haben. Was Muhammad angeboten hat, war es, an den einen Gott zu glauben. Er hat immer wieder gesagt: „Gott zeugt nicht“. Ich würde gerne sagen, dass Muhammad uns die Existenzialisierung geschenkt hat, mit denen wir die Bilder des Neuen Testamentes oder der Bibel insgesamt, aber dann auch des Quran interpretieren, so dass sie uns im Leben verändern, aber nicht in falscher Weise an Magie und Wunder und fantastische Dinge glauben lassen, die das Leben nicht interpretieren, sondern verfälschen. Das ist das Geschenk Muhammads an alle Menschen, insbesondere an die Christen. Er hat die Schriftbesitzer Lügner genannt, weil sie ihre eigenen Überlieferungen auf falsche Weise wörtlich nehmen. Und im Quran steht immer wieder: Gott zeugt doch nicht Kinder! Wie soll denn das gehen? Das ist ein Mythos, aber im Mythos finden wir Bilder, die zeigen, wie wir selber leben. Es ist korrekt zu sagen, dass wir geboren sind aus Heiligem Geist. Aber dann müssen wir es geistig interpretieren.

MM: Auch wenn das Thema wirklich sehr spannend ist, kommen wir jetzt zu einem doch thematischen Bruch. Kommen wir zu einer aktuellen Frage. Sind Sie immer noch für den Austritt Deutschlands aus der Nato?

Dr. Drewermann: Das scheint eine politische Frage zu sein, und dann ist sofort eine machtpolitische Streiterei im Gange. Muss man nicht Russland bekämpfen? Brauchen wir nicht die Nato? Müssen wir nicht Waffen liefern? Brauchen wir nicht Raketen? Wie viele hunderttausend Tote bedürfen wir, um Russland zu besiegen? Wir sind voll im Kampfmodus. Mein Anliegen aber ist kein politisches, sondern ein zutief religiöses. Es kann nicht richtig sein, dass wir Achtzehnjährige dahin trainieren, wie sie das Töten lernen unter Befehl auf den Kasernen aller Staaten dieser Welt. Gott ist größer als alle Staaten dieser Welt, auch das ist ein Bekenntnis, von dem eigentlich Muhammad geprägt war. Und es wäre ein Bekenntnis zum Frieden, wirklich zum „Islam“. Wenn Sie die wunderschöne Alhambra betreten in Granada, steht da immer wieder geschrieben auf Arabisch: Es gibt nur einen Sieger, einen Eroberer, das ist Gott selber. Also hat es doch keinen Sinn, Menschen niedertreten zu wollen in Berufung auf Gott. Zum Himmel aufzuschauen bedeutet – ich spreche jetzt mit den Worten Jesu – dass Gott regnen lässt über Gute und Böse und die Sonne scheinen lässt über Gerechte und Ungerechte. Auch geht es darum, die Fehler des anderen näher zu verstehen und zu überlieben, indem man begreift, was ihn dahin getrieben hat, wieviel Angst man ihm beigebracht hat, dass er so handelte; und es hinwegzustreichen aus seiner Seele, zu überwinden durch Güte ist die eigentliche Aufgabe religiös. Also müssten wir abrüsten statt aufzurüsten, die Militärblöcke auflösen anstatt sie weiterzuführen. Und das hätten wir in Europa sogar haben können. 1989 gab es das Friedensangebot Gorbatschows. Dadurch haben wir in Deutschland die Wiedervereinigung geschenkt bekommen von den Russen. Und statt daraus eine Kultur des Friedens abzuleiten entgegen dem Wahnsinn, sich wechselseitig zu bedrohen mit der Ankündigung: Wir haben Wasserstoffbomben, wir können beim Austrag eines Kegels im Anfangsstadium bereits nach Belieben zehn Millionen Tote, 100 Millionen Tote produzieren, und das zeigt unsere Macht, unsere Größe, unsere Würde, unser Einschüchterungspotenzial. In Wirklichkeit zeigt es nur unsere Niedrigkeit und Gemeinheit, Menschen einschüchtern zu können, indem man sie mit Angst immer wieder knechtet. Das zeigt nicht Größe, sondern Niedrigkeit, Angst, Gemeinheit, Herrschsucht, Unmenschlichkeit. Wie kann man eine Politik richtig finden, die mit der Ausrottung von Hunderttausenden von Menschen glaubt, einen Sieg zu erringen? Dieses ganze Denken ist Wahnsinn. Genau das aber machen wir uns zu eigen in ganz großem Stil, indem wir weiter Nato-Mitglieder sein wollen und mal eben 100 Milliarden für die Aufrüstung zur Verfügung stellen. Kein Problem der Erde lösen wir damit wirklich, weder den Hunger noch die Krankheit noch die Armseligkeit ganz großer Bereiche dieser Welt noch die Verwüstung der Natur noch vermeintlich die Rettung des Klimas. Ein Wahnsinnsprogramm ist das, an dem wir scheitern müssen, wenn wir so weitermachen, wie wir gerade wollen. Das hört ja nicht auf.

Ich bin nicht nur gegen die Nato oder für den Austritt aus der Nato. Ich bin gegen die Militarisierung der Politik im Ganzen. Ich will, dass mein Land wieder von den Gedanken meines Freundes Mahatma Gandhi mit Berufung auf den Mann aus Nazareth regiert wird. Nur Gewaltfreiheit führt zum Frieden, das sind die Worte Jesu in der Bergpredigt: Glücklich nenne sich die Menschen, die es wagen, wehrlos zu bleiben in dieser Welt. Denen gehört das verheißene Land Gottes. Sie werden heimisch werden unter den Händen Gottes. Und wenig später: Glücklich nenn ich die Menschen, die Frieden bereiten. Sie sind Kinder Gottes.

Da sind wir bei dem Wort, auf das wir eben zu sprechen kamen. Wie verfährt man als gezeugt von Gott, indem man friedensfähig wird im Vertrauen zur Überwindung der Angst. Wie versöhnt man Menschen miteinander? Indem man nicht im Kampfmodus gegeneinander antritt, sondern abgerüstet Vertrauen bildet, nicht Macht durchsetzen will, sondern Interessengegensätze ausgleicht durch Verständigung. Das alles wäre doch möglich. Dann brauchen wir keine Nato mehr; ganz einfach. Sie ist das Gegenteil von Frieden. Seitdem sie existiert, seit 1949, parallel zur Gründung der Bundesrepublik West, haben wir Krieg, Krieg und Aufmarsch gegen Russland. Und jetzt schon wieder! Ich will nicht, dass man 70 Jahre später genau das wieder macht, was 1952 in Deutschland West begonnen wurde: Krieg gegen Russland – Wir Deutschen hätten im übrigen Grund, darüber nachzudenken. Wir haben uns verabschiedet 1945 aus Russland mit sage und schreibe 27 Millionen toten Sowjetbürgern. Das ist das Vierfache dessen, was wir angerichtet haben in der Shoa, dem Massenmord an den Juden. Das eine tut uns mit Recht bitterleid, das andere scheinbar überhaupt nicht. Da können wir ohne Skrupel irgendwie so weitermachen. Immer ist der Russe gefährlich. Das war er aber nie. Die Deutschen hatten es nötig, allein im 20. Jahrhundert, zweimal nach Russland einzufallen. Ausgerechnet wir Deutschen verweigern uns dem, was im Angebot war, dem Friedensschluss zwischen Deutschland und Russland. Das hätten wir 1989 in Dankbarkeit für die Wiedervereinigung tun müssen. Aber dann hätten wir den Vormachtansprüchen der Amerikaner nicht nur mit Skepsis, sondern auch mit Widerstand entgegentreten müssen. Dann hätten wir zum Beispiel die Nord-Stream 2 Pipeline. Wir hatten keine Inflation, keine wahnsinnigen Preise bei den Mietkosten, bei den Heizkosten, bei den Nahrungsmittelkosten, eine Abspaltung des unteren Drittels der Bevölkerung von der Oberschicht, die immer reicher wird. Wir hätten so vieles anders, wenn wir wirklich Frieden wollten. Dann müssten wir die Machtpolitik – wir sind die einzigen, die Sieger im Kalten Krieg, uns gehört unipolar die Welt, wir müssen erst Russland niederzwingen und anschließend China in die Mangel nehmen – ein für alle Mal aufgeben. Sie ist weder ein religiöses noch ein menschliches Programm. Dann ist Gott größer als all dieser Wahn, den die Staaten über ihre Bürger verhängen – Auch das wäre schön, wenn es im Islam mal gelernt würde. Auch da haben wir denselben Unfug. Gott wird reklamiert von den Umayyaden, den Abbasiden, von den Mamelucken, von wem Sie wollen. Jeder hat da seinen Gott; obwohl Er immer größer ist, machen alle sich größer im Namen Gottes. Auch diesem widersinnigen Unsinn sollte man in der islamischen Kultur keinen Raum mehr geben. Wenn Gott immer größer ist, dann sollten wir immer kleiner werden und uns miteinander an die Hände nehmen und zum Himmel gemeinsam lernen aufzuschauen. Und vor allem gilt für alle Kriegsbereitschaft im Quran: Wer eines Menschen Leben nimmt, ist wie einer, der aller Menschen Leben nimmt.

MM: Ja, inschallah. Sicherlich wissen Sie, wie meine Wenigkeit als konvertierter Schiit zu Umayyaden, Abbasiden usw. steht. Aber bleiben wir in der aktuellen Politik. Ein kaum zu übersehendes Problem der aktuellen westlichen Welt besteht in der Finanzwirtschaft, die sich die göttliche Eigenschaft zu eigen machen wollte, indem sie „Es werde“ sagt und das Geld meint. Bei der „Verteidigung“ der Ukraine ist es kein Problem, aus dem Nichts hunderte Milliarden zu „erschaffen“, aber bei der Versorgung der Armen, Obdachlosen, Alleinerziehenden und so weiter scheint es unmöglich. Warum ist der Kapitalismus so herzlos?

Dr. Drewermann: Auch, da hätte die westliche Welt vom Islam etwas lernen können. Muhammad hat im Erbe des Judentums und das wieder im Erbe schon der mesopotamischen Keilschrift-Gesetzgebung die Zinsnahme verboten. Man hat bereits 2000 vor Christus gelernt, dass eine Gesellschaft nicht stabil verbleiben kann, wenn die Schulden bis zum Widerspruch der Lebensfähigkeit der Schuldner hochgetrieben werden. Also hat man sich überlegt, dass spätestens nach sieben Jahren so etwas wie ein Insolvenzrecht nötig ist. Die Art, wie die Schulden hochgetrieben werden, liegt gerade darin, dass die Kreditgeber bei den Schuldnern Zinsen erheben, um ihren Reichtum zu vermehren. Das ist unmenschlich, und es ist im Ganzen auch sozial ungünstig. Es spaltet die Gesellschaft, statt sie zu vereinen. Auch das ist ein ganz wichtiges Erbe des Islam: Man darf keine Zinsen nehmen. Daraus ergibt sich idealerweise ein Unterschied im Bankengeschäft.

Ein ganzes großes Übel im Kapitalismus liegt in der Ausbeutung der Armen zum Geldgewinn in den Händen der Reichen. Und das geschieht eben über die Zinsschraube. Auch da kann man sich berufen auf das Neue Testament. Gebt jedem, der euch bittet, sagt Jesus mal. Soll heißen: Achtet nicht auf eure Gewinne, sondern auf die Not, die der andere hat. Und gebt ihm, was er zum Leben braucht – Ich übersetze das jetzt mal ein Stück: Der andere hat wirklich kein Geld mehr, um seine Miete zu bezahlen. Er droht vor die Tür gesetzt zu werden; er hat kein Geld, um seine Stromrechnung zu bezahlen. Er droht mitten im Winter keine Heizung mehr zu haben. Er hat kein Geld, um seine Kinder richtig zu erziehen. Also: Er braucht dringlich Geld. Und was machst du jetzt? Du kannst sagen: Eine ganz günstige Gelegenheit! Ich gebe Geld, aber das muss er mir zurückzahlen. Die Weltbank schraubt sich langsam wieder auf 3% Zinsen hoch, und das ist für die meisten verschuldeten Staaten zu viel. Aber wenn Sie als Privatperson ihren Kredit überziehen, auf Ihrem Girokonto, sind Sie bei 10 bis 14% Zinsen. Das ist die Logik der Banken. Ein gutes Geschäft ist da zu wittern: Wir geben dir gerne das Geld, das du brauchst, bezahle ruhig deine Stromrechnung und die nächste Miete, weil dann bist du in der Pflicht: Zu einem bestimmten Zahltag wollen wir das Geld zurückgezahlt haben. Und wenn das nicht geht, kassieren wir alles, was du je dein Eigentum genannt hast, deine Bonität, mit der wir überhaupt gewagt haben, dir Geld in die Hand zu geben.

Die Frage Jesu ist ganz simpel: Was bist du für ein Mensch, wenn du in die Augen eines leidenden, hilfsbedürftigen Hilfesuchenden schaust und nur daran denkst, ihn mit Zinsen zu erpressen? Wenn Du nur darauf sinnst, wie mache ich mein Geschäft, wie werde ich an seiner Armut nur selber noch viel reicher? – Wovon ich da spreche, ist der Fingerabdruck des Kapitalismus im Ganzen. Wir haben im kommenden Sommer mit aller Wahrscheinlichkeit wieder eine Dürre-Katastrophe, die von Südafrika den ganzen Osten bis nach Somalia hinauf sich ausdehnen wird. Daraus wird hervorgehen Knappheit der Nahrungsmittel, verstärkt noch jetzt durch die Lieferschwierigkeiten aus der Ukraine, weil wir ja gerade Krieg führen müssen. Was wird die Folge sein? Es wird das Angebot der Nahrungsmittel reduziert werden, es wird die Nachfrage nach Nahrungsmitteln steigern. Jeder Papagei, wenn er bei der Volkswirtschaftslehre zuhört, wird das nachsprechen können und sagen: Angebot und Nachfrage diktieren den Preis. Und was lernt er dabei, wenn er als Papagei sitzt bei der Nahrungsmittel-Börse in Chicago? Ein richtiger Money-Maker hat jetzt seine Chance. Wenn er jetzt nicht zugreift, müsste er ein Idiot sein. Weil Nahrungsmittel-Knappheit droht, weil Millionen Hungernde zubuche schlagen, haben wir ein Riesengeschäft. Die Nahrungsmittel Preise steigen, und darauf spekulieren wir noch im Voraus, bevor das passiert, treiben wir durch die Spekulationsgewinne die Preise für die Nahrungsmittel noch ein Stück höher, um selber daran zu verdienen. Das kostet Millionen Tote. Aber es ist unser Geld, und also wird das der Kapitalismus machen. Und das ist lediglich im Zins Geschäft so, dem der Islam widerspricht, wie ich gerade sage, jedenfalls, wenn man ihn korrekt auslegt.

Dazu kommt noch, um den Kapitalismus zu verstehen, die ständige Konkurrenz-Wirtschaft im Kampf der einen Unternehmer gegen die anderen Unternehmer. Das führt dahin, dass man sich durchsetzen muss auf dem Markt, eigentlich neodarwinistisch: Wen kann man an die Wand drücken? Das kann man nur durch zwei Methoden: Man muss zum einen den Zugriff auf die Ressourcen möglichst billig halten. Das bedeutet die Ausbeutung der Länder der Dritten Welt, wo die Ressourcen lagern – In Ihrem Handy werden Sie Coltan haben in den Akkus, importiert aus dem Kongo. Der Kongo ist reich an Bodenschätzen, und deshalb eines der ärmsten Länder der Welt, ausgebeutet von denjenigen, die als Kapitaleigner an die Ressourcen heranwollen. Die beuten sie jetzt genauso aus wie eben noch die Chicago-Nahrungsmittelbörse den Notstand von Hungernden. Der eine Weg ist also die Unterdrückung der Länder der Südhalbkugel. Das hat politisch enorme Konsequenzen: Regime-Change, Umsturz der Regierung, Durchsetzung der Kultur, die sich politisch gebildet hat. Das hat eine lange Spur: Krieg in Somalia, Krieg im Irak, Krieg in Libyen, Krieg in Syrien, Krieg in Afghanistan. Endlose Kriege alleine seit 1991 in den Händen der Amerikaner rein kapitalistisch. Wieder Millionen Tote, über die wir hinweggehen. Das andere ist, wir können billiger produzieren, indem wir die Lohnkosten senken. Das bedeutet Ausbeutung der Arbeitskräfte. Karl Marx vor allem hat das beschrieben schon im 19. Jahrhundert. Die beiden Methoden sind also: Unterdrückung der Länder der Südhalbkugel zur Ausbeutung der Ressourcen und Lohndumping zur Ausbeutung der Arbeiter. Das führt dahin, dass wir die Entwicklungsländer inzwischen dahin treiben, mit Billiglohn-Angeboten gegeneinander Konkurrenz zu machen. Auch das ist typisch kapitalistisch. Ich sag das jetzt ganz einfach im Sinne Jesu 6. Kapitel bei Matthäus: Ihr könnt nur eins von beiden haben, ihr müsst euch entscheiden, Gott oder der Mammon!

Und dann stellen wir fest, dass wir im sogenannten christlichen Abendland kein Christentum haben, sondern den Kapitalismus als Religion verehren. Der Kapitalismus beantwortet all die Fragen, die wir als Menschen haben und die mal ursprünglich von der Religion beantwortet wurden – Wer bist du eigentlich? Gerade noch sagten wir, ein Kind Gottes wäre die Antwort der Religion. Nein, nur wenn du reich bist, dann bist du etwas, dann hast du Macht, dann kannst du dich vorzeigen, wenn du erfolgreich wirst, wenn du anderen auf den Kopf trittst, dann bist du jemand, dann achtet man dich, dann bist du groß, dann kommst du in den Medien vor, dann stellst du etwas dar. Dein Einkommen wird aus dir den Menschen machen, als den wir dich formen. Wie wirst du gesund? Du brauchst die richtigen Ärzte dazu, du brauchst die richtigen Versicherungen dazu. Wenn du Geld hast, kannst du alles haben und dir alles leisten, was bist du dann? Nur: Wie arm sind wir als Menschen, wenn wir den Reichtum brauchen, der uns zu Menschen machen soll? Wir versklaven uns dabei selber. Wir glauben nicht an Gott, wir glauben an das Geld. Und auch das sage ich nochmal gerne mit Mahatma Gandhi: „Es hat ein Christentum im Abendland nie gegeben, sonst wären von dort nicht ständig immer neue Kriege ausgegangen“, spricht er; „man glaubt dort nicht an Gott, man glaubt einzig ans Geld.“ Das ist die Erklärung.

MM: Was wäre denn die Alternative?

Dr. Drewermann: Wir könnten zum Anfang unseres Interviews zurückkehren: Wir könnten begreifen buchstäblich, dass wir nichts sind: nur geformt als Staub in den Händen Gottes. Wie armselig wir alle sind, wie sehr wir gemeinsam bedürfen der Güte, des Verstehens, der Gnade als des Geschenks unseres Lebens aus den Händen Gottes, in der Verpflichtung, das bisschen, was wir haben, selber zu begreifen als Geschenk zum Weitergeben. Das wäre das Ende des Kapitalismus. Man darf nicht mit der Armut anderer Geschäfte machen, man muss mit dem, was wir selber haben, als Geschenk den anderen beschenken, um ihn zu befreien von der Knechtschaft seiner Armseligkeit. Das gilt moralisch und seelisch als Vergebung und das gilt durch Schuldenreduktion im wirtschaftlichen und Finanzpolitischen. Beides ist ein Hauptanliegen der Botschaft Jesu gewesen, und das hat manche Anknüpfung mit dem, was auch Muhammad im Quran beschreibt.

MM: Meinen sie nicht, dass wir alle einen Art Great Reset im Herzen brauchen?

Dr. Drewermann: Genau das meine ich.

MM: Aus Ihren Vorlesungen wissen wir, dass Sie auch im Iran waren. Was haben Sie dort erlebt?

Dr. Drewermann: Ich liebe den Iran sehr und habe ihn mindestens zweimal besucht. Ein persisches Sprichwort besagt: Isfahan ist die halbe Welt. Es ist ein wunderbarer Ort. Ich habe bereits in der Schule bei der Lektüre des Herodot erste gedankliche Beziehungen zu den Persern aufgebaut. Die alten Perser waren die ersten, die Menschheitsrechte eingeführt haben und einführen mussten entsprechend der unglaublichen Ausdehnung ihres Reiches mit den verschiedenen Kulturen. Dieses Kulturerbe müssten wir berücksichtigen, anstatt den Iran zu bekämpfen. Dann kommen hinzu die Mystiker, die im Iran gewirkt haben.

Ich weiß nicht, was Sie in der Vorlesung gehört haben. Einstmals war ich im Iran untergebracht in einer Jugendherberge, in der auch eine Truppe iranischer Soldaten untergebracht war. Und sie brachten mir bei, was für sie Frömmigkeit ist. Was mich traurig macht, ist, dass ich glauben muss, dass nach dem wahnsinnigen Krieg, der von Amerika angezettelt wurde zwischen Irak und Iran, die meisten dieser jungen Leute getötet worden sind. Ich habe den Iran lieben gelernt, doch er steht da als Zielscheibe amerikanischer Politik. Auch das ist ein Wahnsinn. Man hat 1953 den damaligen iranischen Präsidenten Mossadegh, weil er das persische Erdöl verstaatlichen wollte, vom CIA stürzen lassen, und seitdem gilt der Iran als Feindnation im Kampf beim Zugriff ums Erdöl gegen Sowjet-Russland. Ohne jedes Verständnis hat man das Schah-Regime eingesetzt. Man hat natürlich nie verstanden, wie ein alter Mann aus Paris kommt, um als Ayatollah vor allem die Landbevölkerung zu faszinieren. Amerika hat den Iran nie verstanden, aber es macht den Iran zum Kampfobjekt schlechterdings, und man verfälscht die Texte. Angeblich hätte der ehemalige Präsident Ahmedinedschat gesagt, der Staat Israel sollte ausgerottet werden. Tatsächlich hatte er gesagt: Israel soll von der Landkarte verschwinden. Das ist etwas ganz anderes. So etwas haben wir in Westdeutschland auch gesagt: Die DDR muss verschwinden. Das ist ein Regime, das in dieser Weise nicht Bestand haben darf in der Geschichte. Dafür brauchen wir keinen Krieg, dafür bräuchten wir Verständigung. Man hat den Satz aber als Ausrottungsbefehl gegen Israel missinterpretiert, und das nutzt man, um endlos weiter zu rüsten gegen den Iran.

MM: Unsere abschließende Frage ist: An welchen Projekten arbeiten Sie aktuell?

Dr. Drewermann: Es ist gerade rausgekommen der dritte Band eines Buches, das den Titel hat: „Richtet nicht“. Das ist das Wort Jesu am Ende der Bergpredigt im 7. Kapitel des Matthäus. Und es gibt wieder, was Jesus im Ganzen sagen wollte: Wir alle leben von Vergebung. Aber nicht, indem wir uns auf den Thron setzen und uns anmaßen über Menschen zu richten, sie schuldig zu sprechen und sie zu bestrafen, sie abzuurteilen, sie hinzurichten, statt sie aufzurichten. So machen wir Menschen nicht gütiger, nicht menschlicher. So flößen wir Ihnen Angst ein, so schreiben wir sie fest in den Verwirrungen ihrer Seele. So helfen wir nicht, sondern unterdrücken andere zum Machtgewinn. Und davon müssen wir lassen. Das habe ich mit vielen Fragen zu belegen versucht, die auch im Islam eine große Aufmerksamkeit haben: Gibt es wirklich die Unterstellung, Menschen sind frei, so dass man sie für schuldfähig erklären kann. Wie versteht man den Glauben an die Führung Gottes? Ich habe versucht, die Rechtsphilosophie mit der Theologie im Christentum zu verbinden, vor allem aber mit den Problemen der Psychoanalyse und der Naturwissenschaften. Gibt es für Neurologen Willensfreiheit, gibt es Freiheit, wenn unser Willen selber in seiner Freiheit eine Angst auferlegt, die neue Zwänge bedingt? Können wir im Raum der Politik und der Gesetzes-Wahrnehmung von einer Freiheit sprechen, wenn wir bis zum Atomkrieg unsere Unfreiheit zelebrieren nach dem Motto: Wir müssen handeln, wir brauchen Krieg, wir brauchen Militär, wir brauchen Sicherheit, und dabei vergessen wir, dass unsere Sicherheit grundsätzlich nur die Sicherheit des anderen sein kann? Und dann kommt ein zweites Büchlein Anfang Juni heraus. Das trägt den Titel. „Nur im Frieden gehören wir uns selber“, untertitelt „die Bergpredigt als Zeitenwende“. Das ist eine Herausforderung dessen, was Olaf Scholz politisch gerade definiert. Am 27. Februar des letzten Jahres fügte er den Begriff „Zeitenwende“ in das politische Narrativ ein. Doch was er damit meint, ist keine Zeitenwende, sondern ein barbarischer Rückfall um Jahrtausende in eine Kultur, die wir eigentlich gehofft hatten, mal hinter uns zu lassen: Wie bedroht man sich wechselseitig mit militärischer Macht immer abscheulicher, immer grausiger in Akzeptanz millionenfachen Mordens. Indem man die Angst hochtreibt und die Menschlichkeit verliert. Das ist keine Zeitenwende. Das ist ein Salto Mortale zurück in jede beliebige Form der Vorzeit. Die eigentliche Zeitenwende wäre die Bergpredigt. Sie ist ein wirklich seelisches Rezept, das ein Umdenken im Ganzen begründet im Vertrauen auf die Hände, aus der die Formungskraft unseres Daseins stammt. Und so mache ich weiter.

MM: Inschaallah. Herr Drewermann, wir danken Ihnen ganz herzlich für dieses Interview.

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